Nicht weg und nicht da (Rezension)


Allgemeines

Titel: Nicht weg und nicht da
Autorin: Anne Freytag
Preis: 16,00€
Format: Hardcover 
Verlag: Heyne Verlag
Erscheinungsdatum: 19.03.2018
Seitenanzahl: 480
ISBN 978-3-4532-7159-3



Klappentext


Den Anfang kannst du nicht ändern - Das Ende schon.

Nach dem Tod ihres Bruders macht Luise einen radikalen Schnitt: Sie trennt sich von ihrem mausgrauen Ich und ihren Haaren. Übrig bleiben drei Millimeter und eine Mauer, hinter die niemand zu blicken vermag. Als Jacob und sie sich begegnen, ist er sofort fasziniert von ihr. Doch Luise hält Abstand. Bis sie an ihrem sechzehnten Geburtstag eine E-Mail von ihrem toten Bruder bekommt - die erste von vielen. Mit diesen Nachrichten aus der Zwischenwelt und Jacob an ihrer Seite gelingt es Luise, inmitten dieser so aufwühlenden wie traurigen Zeit das Glitzern des Lebens wiederzufinden...

Meine Meinung


"Alle dreiundfünfzig Minuten nimmt sich ein Mensch das Leben. Jeder von ihnen hinterlässt ein zerrissenes Gefüge. Versprengte Einzelteile, die sich neu sammeln und zusammenfügen müssen. Luise ist so eins."
~ Zitat, Essay von Anne Freytag


Während ich diese Rezension schreibe, habe ich das Buch am Tag zuvor beendet. Ihr werdet meine Worte allerdings erst später lesen, weswegen ich mir die größte Mühe gebe, meine Gedanken zu sortieren und sie verständlich niederzuschreiben.
Beginnen wir mit der Protagonistin Luise. Anfangs lernt man sie als zerbrochene Person kennen, die in ihren Gefühlen erstickt. Völlig verständlich, schließlich hat ihr Bruder, ihre Sonne, ihr Ein und Alles, beschlossen, die Welt zu verlassen - ohne sie. Luise sucht nach Unterstützung, doch diese bekommt sie weder von ihrer Mutter noch möchte sie die des Therapeuten annehmen. Das Mädchen ringt verzweifelt nach Luft, als müsste sie jemand aus den Untiefen ihres Trauer- und Gedankenmeeres retten. Und das scheint anfangs unmöglich zu sein.

"Meine Welt funktioniert nicht ohne Kristopher. Es ist wie bei einer Gleichung. Wenn er fehlt, komme ich nicht weiter. Man kann nicht einfach auf der einen Seite etwas wegnehmen, ohne es auf der anderen anzupassen. Ich bin unvollständig. Und ich werde niemals herausfinden, was x ist."
~ Zitat, S. 39


Durch einen Zufall trifft sie auf Jacob. Er sieht gut aus, kocht und boxt gerne und ist vor allem sofort von Luise fasziniert. Was hat sie dazu bewegt, sich ihre Haare abzurasieren? Was trägt sie für eine Last auf ihren Schultern? Sie ist ein Mysterium, das er lösen möchte. Es dauert nicht lange, bis sich die beiden zu Freunden entwickeln, kurz darauf wird Jacob zu dem einzigen Menschen, dem Luise vertrauen und sich öffnen kann. Doch kann es sich auch darüber hinaus entwickeln...?
Jacob war selbst für mich, die Leserin, ein Fels in der Brandung. In den richtigen Momenten hat er zugehört, hat Umarmungen verteilt oder war einfach nur da. Eine solche Person im Leben zu haben ist einfach goldwert und es hat mich so glücklich gemacht, dass auch Luise jemanden gefunden hat, der in schlechten Zeiten ihre Stütze ist.


" 'Stille Wasser sind tief', denke ich, und dann frage ich mich, wie tief wir wohl zusammen sind, Luise und ich." 
~ Zitat, S. 283


Anne Freytag erzählt auf eine nüchterne Art und Weise von Trauer, Tod und dem Leben danach. Sie verdeutlicht, dass das Loslassen eine Hürde ist, an der oft gescheitert wird, und dass es zwar hinausgezögert werden kann (wie hier mit den Kristophers E-Mails), aber letzten Endes unumgänglich ist. Denn Loslassen heißt nicht automatisch Vergessen.
Wie zuvor in ihren anderen Büchern greift Anne auch dieses Mal ein ernstes und schwerwiegendes Thema auf. Selbstmord ist etwas, was nicht verdrängt oder aus der Welt geschaffen werden kann. Er ist präsent; gestern, heute und morgen. Dieser Tatsache blickt die Autorin ins Auge und entblößt die Wahrheit; lässt Beschönigungen außen vor.
Sie schaut nicht einfach weg wie viele Menschen, sondern schafft es tatsächlich auch noch, dieses wichtige Thema und Problem in Worte zu fassen, was einen wiederum stark zum Nachdenken anregt.

"Nicht weg und nicht da" war nach "Den Mund voll ungesagter Dinge" und "Mein bester letzter Sommer" bereits mein drittes Buch von Anne Freytag und wieder konnte sie mich durch die Thematik und ihren Schreibstil berühren und überzeugen.
Leicht, verständlich und kurz - für mich eine perfekte Mischung. Letzteres bezog sich sowohl auf die Sätze als auch die Kapitel, was ich beides sehr angenehm fand, und was mich so schließlich dazu gebracht hat, die knapp fünfhundert Seiten in wenigen Stunden zu verschlingen.

"Wir sind Luise und Jacob. Was das bedeutet, weiß ich nicht.
Mir bedeutet es alles."
~ Zitat, S. 318

Es fiel mir unglaublich einfach, die Charaktere ins Herz zu schließen und sogar zu verstehen, obwohl ich selbst noch keinen geliebten Menschen verloren habe.
Zwar habe ich nicht geweint, aber als sich die Geschichte dem Ende näherte, ließ sich der Kloß in meinem Hals nicht mehr verleugnen. Nicht zuletzt lag dies vor allem an den E-Mails von Luises Bruder Kristopher, die einem an den vereinzelten Stellen richtig nahe gehen konnten. (Er, Luises Mutter und Jacobs Bruder waren übrigens sehr tolle Nebencharaktere.)

"Hätte ich einen anderen Weg gesehen, hätte ich ihn genommen, ich hoffe, das weißt du. Für dich gibt es einen. Für mich gab es keinen."
~ Zitat, S. 54

Zuletzt noch ein kleines Thema, was gut zwischen den Zeilen untergebracht wurde: die Musik. Sowohl Luise als auch Jacob verbinden viel mit ihr; können loslassen und sich in ihr verlieren. Mir persönlich geht es manchmal auch so und es war beeindruckend, wie die Autorin die Gefühle einfangen konnte, die Musik in einem auslösen kann. Ein absoluter Pluspunkt war hier die Gestaltung am Ende des Buches, wo sich eine Playlist im Spotify-Aussehen befindet, die echt tolle Lieder beinhaltet und sogar in echt auf Spotify zu finden ist.

Anne Freytags wunderbarer Schreibstil und ihre Ideen haben letztendlich ein unglaubliches Buch erschaffen, das mit wunderschönen, traurigen, ernsten und schwierigen Stellen gefüllt ist. Vieles hat mich sehr berührt und ich hatte mehrmals Tränen in den Augen.
"Nicht weg und nicht da" - ein passender Titel und eine Herzensempfehlung!

Bewertung

4,4/5❤

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen